Schwere Kost am Imbisswagen?
Ein Imbisswagen auf dem Schulhof? Ob es heute wohl Burger in der großen Pause gibt? Das fragten sich viele Schülerinnen und Schüler des Friedrich-Abel-Gymnasiums am vergangenen Mittwoch, als sie am Morgen den Schulhof betraten. Doch ein Blick auf die Rückseite des Trailers zeigte sehr schnell, dass es sich mitnichten um eine kulinarische als vielmehr um eine kulturelle Bereicherung des Schulalltags handelte: Lokstoff!, das Stuttgarter Theaterkollektiv mit seinem speziellen Schwerpunkt auf „Theater im öffentlichen Raum“ war für ein Gastspiel für die 9. und 10. Klassen angereist. Eine Bereicherung und eine spannende Abwechslung war es aber auf jeden Fall, da waren sich die Schülerinnen und Schüler nach der Vorstellung sehr schnell einig.
„Sophies Mind*truck“ heißt das Theaterstück, das Lokstoff! unter dem Eindruck der Corona-Pandemie entwickelte und dessen Thema trotz Ende der Gesundheitskrise immer noch sehr aktuell ist: Verschwörungsmythen und was diese mit den Menschen und auch mit Familien und Freundschaften machen. Das Stück spielt an einem „Imbisswagen“, den das Schauspielkollektiv mit seinem Technikteam immer dort aufbaut, wo gespielt werden soll, in diesem Fall eben im Schulhof des Friedrich-Abel-Gymnasiums. An diesem Mikrokosmos rund um ein Grundbedürfnis des Menschen – das Essen – werden auch die Schwierigkeiten anderer Grundbedürfnisse der Menschen verhandelt: Familie, die Vorstellung vom persönlichen Glück, finanzielle Zwänge und der Versuch, die aus den Fugen geratene Welt zu erklären.
Sophie betreibt mit ihren beiden Töchtern den Imbisswagen, in dem all ihr Erspartes steckt. Die eine Tochter möchte eigentlich lieber studieren und finanziert den Imbisswagen zum Großteil mit den Einnahmen ihres youtube-Kanals, den die anderen Familienmitglieder eher kritisch sehen. Die andere Tochter möchte eigentlich mehr für die Rettung der Welt als für das schnelle Essen der Kunden tun und sucht einen Weg, beides in Einklang zu bringen und auch noch die anderen Familienmitglieder von der Notwendigkeit aller möglichen Regeln für das Zusammenarbeiten zu überzeugen. Und Sophie wäre eigentlich lieber als Aussteigerin in Mexiko als sich um Imbisswagen, Familienzusammenhalt und die pflegebedürftige Mutter im Altenheim zu kümmern. Dieses fragile Familienkonstrukt bringt nun ein Kunde mit seinem Verschwörungsmythos vom „gefährlichen Wasser“ zum Zerbersten.
So wurde auf dem Schulhof vor den Augen der Schüler gestritten, gelacht, geweint und am Ende auch gecatched – alles, aber keine einfache Lösung für eines der drängendsten Probleme unserer Gesellschaft geboten: wie finden wir alle wieder zusammen trotz unterschiedlicher Träume, Ziele und Internet-Bubbles, in denen jeder seine eigene Wahrheit finden kann. Denn das ist es ja, was Verschwörungsmythen bieten: sie gaukeln Halt und Erklärung vor in einer schwankenden und komplizierten Welt.
Und genau das wollte Lokstoff! nicht bieten mit ihrem Stück: eine vereinfachte Lösung dieses schwierigen Problems, wie die Schauspielerin Kathrin Hildebrand im anschließenden Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern sehr deutlich machte. Das Stück will auch nicht verurteilen oder Menschen, die an solche Mythen glauben, ins Lächerliche ziehen, sondern zeigt Menschen am Limit, die ihren Weg durchs Leben suchen und unterschiedlich empfänglich sind für Erklärungen, die einem verführerisch erscheinen.
Diese spalterische Kraft wurde sehr eindrücklich vorgeführt. Die Lösung zu finden bleibt Aufgabe von uns allen, junger und älterer Generationen unserer Gesellschaft.
Insofern verließen die Schülerinnen und Schüler den gewohnten Schulhof nach diesem außergewöhnlichen Theatererlebnis um einige Erkenntnisse reicher und sensibilisiert für die Verführungskraft solcher Verschwörungsmythen, aber nicht abgefertigt mit der Illusion einer einfachen Lösung für die Zentrifugalkräfte unserer Zeit.
Bericht verfasst von Sarah Wolf